Hier können Sie sich noch in einem Interview zur Bedeutung des Urteils der dritten Kammer des Europäischen Gerichtshofs ergänzend informieren.
Als dieses Interview in Druck ging, war noch nicht bekannt, dass das Bundeskabinett die Entscheidung an sich zieht und entgegen dem fachlichen Urteil des Bundesministeriums der Justiz beschließt, nicht die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beantragen.
Ändert die Bundesregierung ihren Beschluss nicht bis zum 24. September, stehen die Medien und die Rechtsprechung vor einer fatalen Situation:
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, welche Rechtslage der deutschen Verfassung entspricht. Das von der Entscheidung des BVerfG abweichende Urteil des EGMR stützt sich auf die Europäische Menschenrechtskonvenvention. Diese Konvention hat in Deutschland keinen Verfassungsrang, so dass sich - rein juristisch und auf den ersten Blick - zunächst überhaupt nichts ändert.
Nach der Menschenrechtskonvention ist die Bundesrepublik Deutschland jedoch verpflichtet, das Straßburger Urteil durchzusetzen. Die Medien und die deutschen Gerichte können aber, wenn überhaupt, nur durch ein Gesetz verpflichtet werden, sich entgegen der Rechtsprechung des BVerfG zu verhalten. Ein Gesetz, das die gegenteilige Entscheidung des EGMR befolgt, würde logischerweise gegen die deutsche Verfassung verstoßen (wie sich aus der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt, insbesondere aus der Entscheidung vom 15. 12. 1999, gegen die sich der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 26. April dieses Jahres gewandt hat).
Folglich müsste erst die deutsche Verfassung geändert werden. Wie verhält es sich jedoch, wenn die für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat nicht zustandekommen (zwei Drittel der Mitglieder des Bundestags und zwei Drittel der Stimmen des Bundesrats)? Will man annehmen, die im Range unter der deutschen Verfassung stehende Europäische Menschenrechtskonvention verpflichte - Mehrheiten hin, Mehrheiten her - zwingend den deutschen Bundestag und den Bundesrat, die deutsche Verfassung zu ändern?
Aus dem Urteil der dritten Kammer des EGMR ist nicht ersichtlich, dass bedacht wurde, welche Schwierigkeiten sein Urteil aufwirft. Umso dringlicher wäre, dass die Bundesregierung doch noch beantragt, die Rechtssache an die Große Kammer zu verweisen. Dies gilt umso mehr als - allgemein anerkannt - das Urteil der dritten Kammer in vielerlei Hinsicht unklar ist.
Steht es um die Medien unter diesen Umständen doch nicht so schlecht? Doch. Wer die Praxis kennt, weiß: Wer gegen Tendenzen angehen muss, verliert meist. Irgendwie gelingt es, mit der Tendenz die Rechtslage auszuhöhlen.
Man braucht nur an die aus der Begleiterrechtsprechung gewonnenen Erfahrungen zu denken:
Der „fliegende Gerichtsstand” ermöglichte es den Prominenten, in der Stadt erfolgreich zu klagen, in welcher die Gerichte erster und zweiter Instanz verfassungswidrig gegen die Medien entschieden. Es dauerte fünf Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht urteilte, diese Begleiterrechtsprechung sei verfassungswidrig. In diesen fünf Jahren waren jedoche Hunderte von Entscheidungen gegen die Medien rechtskräftig geworden und vor allem: Unzählige Beiträge wurden - zum Schaden der Kommunikationsfreiheit - von den eingeschüchterten Medien gar nicht erst veröffentlicht.
Weitere zwei Gründe, welche die Bundesregierung veranlassen müssten, doch noch die Verweisung an die Große Kammer zu beantragen, haben wir gestern an dieser Stelle erwähnt:
Inhaltlich fällt die Entscheidung zur Verweisung in die Zuständigkeit der Länder. Deshalb sollte oder darf die Bundesregierung das Urteil der dritten Kammer nicht allein aus eigener Machtvollkommenheit rechtskräftig werden lassen.
Der zweite weitere Grund: Allzu schnell wird gegen die Medien argumentiert werden, sie sollten die deutsche Verfassung und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vergessen. Warum? Wenn die Europäische Menschenrechtskonvention über die Europäische Verfassung zu beachten ist, dann geht das Urteil der dritten Kammer des Straßburger Gerichts vor. Umso mehr müsste ein derart fragwürdiges und unklares Urteil doch wenigstens von der Großen Kammer überprüft werden.
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