BAG Urt. v. 29.6.2023 Az. 2 AZR 296/22 Pressemitteilung Nr. 31/23 des BAG vom 29.6.2023

Leitsatz mit den Worten der Pressemitteilung

In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.

Aus der Vorgeschichte
Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm ua. vor, am 2. Juni 2018 eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach seinem eigenen Vorbringen hat der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger dieses noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, er habe am 2. Juni 2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.

Das BAG rechtlich

Das BAG muss nicht nur das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zu Grunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folgt aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprach. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung – wie hier – offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall ist es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat. Der Senat konnte offenlassen, ob ausnahmsweise aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverstöße in Betracht kommt, wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Das war vorliegend nicht der Fall.

Hinweis des BAG
Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 6. Juli 2022 - 8 Sa 1149/20 -
Hinweis: Der Senat hat drei ähnlich gelagerte Verfahren auf die Revision der Beklag-ten ebenfalls an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.


Anmerkung der Kanzlei

In den ersten Semestern des Studiums lernen die Studierenden, dass in solchen Fällen ein versuchter Prozessbetrug vorliegt. Auf eine Verfolgung des klägerischen Verhaltens wird nicht hingewiesen. Sowohl Arbeitgeber als auch die Allgemeinheit verdienen es, vor Strafwilligen dieser Art geschützt zu werden, und sie sollten noch weitreichender informiert werden. Wir jedenfalls, als auch rechtssoziologisch geprägte Kanzlei, sind dem BAG für dieses Urteil sowie für - wie das BAG in der Pressemitteilung mitteilt - die weiteren gleichartigen Urteile zu Dank verpflichtet. Nach der von uns ermittelten Grundnorm erfüllt dieses Urteil alle Anforderungen an eine gesellschaftlich erwünschte Rechtsprechung.

https://www.schweizer.eu/kanzlei/grundnorm

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
zertifizierte Datenschutzauditorin (DSA-TÜV)
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Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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