Das Oberlandesgericht Naumburg hat in einem einstweiligen Verfügungsverfahren entgegen der klaren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs geurteilt. Az.: 1 U 42/04; soeben veröffentlicht im NJW-Rechtsprechungsreport 10/2003. Gestritten wurde um eine Anwaltseinladung zu einer Informationsveranstaltung. Mit keinem Wort setzt sich das Urteil des OLG Naumburg mit der entgegenstehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinander.
Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH ist in den Fachzeitschriften veröffentlicht worden, welche die Richter auf jeden Fall lesen müssten. Vor allem: Selbst wer Zeitschriften nur oberflächlich durchsieht, achtet doch wenigstens auf die Entscheidungen, die seinen Zuständigkeitsbereich betreffen. Zudem wurden diese Entscheidungen in den Fachzeitschriften besprochen.
Es ist für einen zuständigen Juristen geradezu ein Kunststück, sich nicht daran zu erinnern, dass „doch da zu diesem Thema etwas entschieden worden ist”. Die zuständigen Richter des OLG Naumburg haben sich jedoch offenbar allesamt nicht erinnert.
Nicht genug: Das OLG Naumburg hätte die entgegenstehende Rechtsprechung mühelos in Sekunden (nicht Minuten) online ermitteln können. Im Internetauftriit des BGH erscheint die hier wesentliche BGH-Rechtsprechung gleich auf Anhieb, wenn das nächstliegende Suchwort, nämlich: „Informationsveranstaltung” eingegeben wird.
Mit richterlicher Unabhängigkeit haben handwerkliche Fehler dieser Art selbstverständlich nichts zu tun. Richter dürfen nicht nachlässiger arbeiten als andere Juristen. Man kann sich auch nicht recht vorstellen, dass andere Oberlandesrichter derart mangelhaft arbeiten. Rechtsanwälte, deren Leistungen in Rechtsanwaltskanzleien überprüft werden, müssten entlassen werden, wenn sich kein besserer Leistungsstandard sicherstellen liesse. Ob die Anwälte im Naumburger Verfahren auf die entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung hingewiesen haben, ergibt sich aus dem Urteil nicht.
Wer annimmt, dass sich Juristen nun in einem Sturm der Entrüstung empörten und nach Konsequenzen fragten, kennt sich im Rechtsleben nicht aus. Die bis jetzt „schärfste” Kritik ist ein Satz wie: „Allerdings hat sich die neue Rechtsprechung des BGH und des BVerfG anscheinend immer noch nicht bei allen Oberlandesgerichten herumgesprochen, wie ein Urteil im einstweiligen Verfügungsverfahren des OLG Naumburg zeigt”(Huff, mit Recht einer der angesehensten und einflussreichsten Juristen Deutschlands, in „Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht - Kurzkommentare”, Ausgabe 9/2003).
Der zitierte Kommentar in EWiR schließt freundschaftlich kollegial: „Mittlerweile ist die betroffene Kanzlei im Hauptsacheverfahren, und es ist zu hoffen, dass sich die Richter dann etwas mehr Zeit für eine Auseinandersetzung mit den Fragen der Anwaltswerbung nehmen”.