Ordentliche Kündigung bei sogenanntem Mischtatbestand

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

20. 11. 1997


Aktenzeichen

2 AZR 643/96


Leitsatz des Gerichts

Straftaten, die der öffentliche Bedienstete - wenn auch im Privatbereich - begeht, können wegen §§ 6 , 8 BAT aus verhaltensbedingten Gründen jedenfalls eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen, § 1 II KSchG.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. war seit Juni 1974 bei der Bekl. auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 4. 6. 1974 in der Fassung vom 19. 12. 1984 beschäftigt; sie war zuletzt in der Standortverwaltung W. als Büro- und Schreibkraft-Signiererin (Datenerfassung Bekleidung) tätig. Nach einem Bescheid des Versorgungsamtes Hannover vom 31. 7. 1995 ist wegen seelischer Störungen und eines Wirbelsäulensyndroms ein Grad der Behinderung von 20 anerkannt. Nach dem Strafurteil des LG Hannover vom 21. 10. 1994 liegt bei der Kl. eine im Kleinkindalter begonnene neurotische Entwicklung vor, die zu einer gestörten Konfliktverarbeitung führte und sich zu einer sogenannten Konversionsneurose ausbildete. Diese besteht in der Veranlagung, Gegenstände zu kaufen, ohne diese zu bezahlen und bezahlen zu können; die durch den Besitz der gekauften Sachen erstrebte Befriedigung tritt nicht ein. Wegen der auf dieser Veranlagung beruhenden Straftaten ist die Kl. mehrfach strafgerichtlich verurteilt worden; außerdem war sie deshalb verschiedentlich in therapeutischer Behandlung. Die erste Verurteilung der Kl. wegen Betruges erfolgte am 20. 9. 1985 zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen. Eine weitere Verurteilung wegen Betruges erfolgte am 11. 11. 1985 zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen; dem folgte eine Verurteilung wegen Betruges am 24. 10. 1986 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten mit Bewährung. Wegen Anstiftung zu einer Falschaussage, um eine betrügerische Handlung zu verdecken, erfolgte eine weitere Verurteilung am 29. 4. 1987 zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten mit Bewährung und am 20. 8. 1987 wegen weiterer Betrugstaten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Bewährung; die letztere Strafe wurde am 7. 2. 1994 erlassen. Schließlich erfolgte am 25. 11. 1988 eine weitere Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, wobei die Vollstreckung erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde; diese Strafe wurde am 1. 2. 1993 erlassen. Aufgrund des bereits erwähnten Urteils des LG Hannover vom 21. 10. 1994 ist die Kl. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden, wobei ihr eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zuerkannt wurde; gleichzeitig wurde die Unterbringung der Kl. nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Bereits im Herbst 1986 wurden psychosomatische Störungen der Kl. erstmalig festgestellt; sie befand sich daraufhin vom 18. 12. 1986 bis 17. 3. 1987 in einer psychosomatischen Klinik. Die Kl. absolvierte ferner stationäre Therapien in den Zeiträumen vom 26. 1. 1989 bis 30. 3. 1989, vom 2. 8. 1990 bis 29. 11. 1990 sowie vom 28. 12. 1993 bis 8. 3. 1994. Aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses des LG Hannover vom 6. 4. 1994 befand sie sich seit dem 11. 5. 1994 in einstweiliger Unterbringung im Landeskrankenhaus W.; seit dem 2. 1. 1995 wird die Kl. im niedersächsischen Landeskrankenhaus M. behandelt, wobei psychotherapeutische Einzelgespräche und familientherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Diese Maßnahmen dauerten bis zum 15. 8. 1995 an; seitdem befindet sich die Kl. im offenen Maßregelvollzug in H. Wegen ihrer psychosomatischen Störungen erhielt die Kl. auf ihren Antrag seit 1993 eine zeitlich begrenzte EU-Rente, die zunächst bis zum 31. 1. 1995 bewilligt und dann zeitlich bis zum 31. 1. 1996 befristet wurde. Nach Anhörung des Personalrats laut Schreiben vom 14. 3. 1995 und dessen Zustimmung kündigte die Bekl. mit Schreiben vom 28. 3. 1995 das Arbeitsverhältnis mit der Begründung auf, die Kl. sei aufgrund der Freiheitsstrafe nicht in der Lage, im Anschluß an die Zeitrente den Dienst wieder anzutreten; außerdem habe sie in schwerwiegender Weise gegen ihre allgemeinen Pflichten gegenüber dem öffentlichen Arbeitgeber (§ 8 BAT) sowie gegen ihr Gelöbnis (§ 6 BAT) verstoßen; damit habe sie dem Ansehen des öffentlichen Dienstes geschadet. Außerdem habe die Kl. nicht alle eintretenden personellen Veränderungen mitgeteilt.

Das ArbG hat nach dem Klageantrag erkannt. Das LAG hat den Zeugen L vernommen und die Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Mit der vom LAG zugelassenen Revision erstrebt die Bekl. nach wie vor die Klageabweisung. Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Das LAG hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:

Es könne dahingestellt bleiben, ob die Kündigung schon aus personalvertretungsrechtlichen Gründen unwirksam sei, jedenfalls sei die Kündigung sozial nicht gerechtfertigt (§ 1 II KSchG), weil weder personenbedingte noch verhaltensbedingte Gründe ausreichend vorgetragen seien. Zwar sei eine dreijährige Freiheitsstrafe, die zur Unmöglichkeit der Arbeitsleistung führe, an sich als personenbedingter Kündigungsgrund geeignet, vorliegend sei aber die Unterbringung der Kl. in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden, so daß der Erfolg der therapeutischen Maßnahme hätte abgewartet werden müssen. Die Bekl. habe auch nicht vorgetragen, welche betrieblichen Störungen durch das Fehlen der Kl. aufgetreten seien. Berücksichtigt werden müsse auch, daß die Ursachen für die Verurteilungen der Kl. letztlich in deren Krankheit lägen. Schließlich ergebe der weitere Verlauf der therapeutischen Maßnahme, daß die Kl. bereits im August 1995 in den offenen Maßregelvollzug gebracht worden sei, so daß die Möglichkeit bestanden habe, die Arbeitsstelle tatsächlich aufzusuchen. Hinsichtlich des zweiten Kündigungsgrundes sei anzumerken, daß die Kl. zwar auch gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten (§§ 6 , 8 BAT) verstoßen habe und eine absolute Verschuldensunfähigkeit der Kl. nicht festzustellen sei, gleichwohl ergebe die Interessenabwägung, daß eine so erhebliche Pflichtverletzung nicht angenommen werden könne, wobei auch auf die Wertentscheidung der Verfassung zu Art. 12 GG Bedacht zu nehmen sei. Bezüglich des dritten Kündigungsgrundes, der Verletzung arbeitsvertraglicher Nebenpflichten (Mitteilung persönlicher Veränderungen), sei vor Ausspruch der Kündigung eine Abmahnung erforderlich gewesen.

II. Dem folgt der Senat weder im Ergebnis, noch in der Begründung. Die Revision rügt zutreffend, das LAG habe bei der Beurteilung des Kündigungssachverhalts nicht genügend auf die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts abgestellt, jedenfalls bei der Interessenabwägung die nach seiner Auffassung vorliegenden drei unterschiedlichen Gründe keiner ausreichenden Gesamtbetrachtung zugeführt.

1. Bei der Frage, ob eine ordentliche Kündigung gem. § 1 II KSchG sozial gerechtfertigt ist, handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom RevGer. nur dahin überprüft werden kann, ob das BerGer. den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 1 KSchG Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat, ob es bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der dem Tatsachenrichter ein Beurteilungsspielraum zusteht, alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat und ob die Entscheidung in sich widerspruchsfrei ist (st. Rspr., u. a. Senat, NZA 1995, 119 = AP Nr. 25 zu § 1 KSchG 1969 [zu II 1] ). Diesem eingeschränkten Überprüfungsmaßstab halten die Ausführungen des LAG nicht stand.

2. Allerdings ist dem rechtlichen Ausgangspunkt des LAG zuzustimmen, daß bei einer Kündigung, die auf mehrere Gründe gestützt wird, zunächst zu prüfen ist, ob jeder Sachverhalt für sich allein geeignet ist, die Kündigung zu begründen; erst wenn die isolierte Betrachtungsweise nicht bereits zur Sozialwidrigkeit der Kündigung führt, ist im Wege einer einheitlichen Betrachtungsweise zu prüfen, ob die einzelnen Kündigungsgründe in ihrer Gesamtheit Umstände darstellen, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebes die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen (st. Rspr., BAG, AP Nr. 3 zu § 626 BGB; BAG, NJW 1983, 700 = AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung [zu III 3]; BAG, NZA 1986, 713 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 [zu III 1]; zust. Hueck-v. Hoyningen-Huene, KSchG, 12. Aufl., § 1 Rdnr. 167; Etzel, in: KR, 4. Aufl., § 1 KSchG Rdnrn. 257 f.; Schaub, ArbeitsR-Hdb., 8. Aufl., S. 1160; Löwisch, KSchG, 7. Aufl., § 1 Rdnrn. 66 f.). Dagegen ist bei sogenannten Mischtatbeständen, nämlich wenn ein letztlich einheitlicher Lebenssachverhalt zwei oder gar drei der in § 1 II KSchG genannten Bereiche, also verhaltens-, personen- und betriebsbedingte Gesichtspunkte berührt, die Abgrenzung, welchem dieser Bereiche die Beurteilung der Kündigung unterworfen werden soll, aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BAG nach der Sphäre auszurichten, aus der die Störung des Arbeitsverhältnisses primär kommt (BAGE 46, 191 = AP Nr. 21 zu 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG, NZA 1986, 713 = AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 [zu III 1]; krit. hierzu u. a. Hillebrecht, in: KR, § 626 BGB Rdnrn. 121 f. m. w. Nachw.). Ob an dieser Rechtsprechung in vollem Umfang festzuhalten ist, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden.

a) Das LAG hat sich bei seiner Würdigung der von der Bekl. dargestellten Kündigungsgründe in erster Linie an deren Beschreibung im Kündigungsschreiben vom 28. 3. 1995 orientiert. Es hat dabei nicht berücksichtigt, daß, zumindest was die Kündigungsgründe unter 1 und 2 des Kündigungsschreibens angeht (haftbedingte Unmöglichkeit zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung sowie Verstoß aufgrund der Straftaten gegen die Pflichten des Angestellten aus § 8 BAT), letztlich ein einheitlicher Mischtatbestand vorliegt. Die Straftaten der Kl. und die nachfolgende strafrechtliche Sanktion werden durch das Ermittlungsverfahren und das abschließende Strafurteil dokumentiert. Dies stellt wegen der besonderen Verhaltenspflichten im öffentlichen Dienst (§ 8 BAT) einen einheitlichen Lebenssachverhalt dar, und zwar unabhängig davon, ob das Strafurteil nur eine Bewährungsstrafe ausspricht oder außerdem noch zu einer Inhaftierung und damit zu einem haftbedingten Fehlen des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz, also zusätzlichen betrieblichen Auswirkungen, führt.

b) Die gemeinsame, primäre „Störquelle“ in dem vom LAG festgestellten Sachverhalt (§ 561 ZPO) ist darin zu sehen, daß die Kl. über mehrere Jahre hin - etwa seit 1986 bis 1993 - aufgrund ihrer krankhaften Veranlagung, Gegenstände zu kaufen, ohne diese zu bezahlen und bezahlen zu können, im privaten und nicht etwa im dienstlichen Bereich straffällig geworden ist. In dieser Verhaltensweise liegt die eigentliche Störquelle, weshalb die streitige Kündigung unter dem Gesichtspunkt verhaltensbedingter Gründe i. S. von § 1 II 1 KSchG zu prüfen ist, und zwar unter Einbeziehung der verhängten Haftstrafe und ihrer Folgen. Insoweit hebt die Bekl. zu Recht darauf ab, das Verhalten der Kl. entspreche nicht den allgemeinen Pflichten, wie sie in § 8 I 1 BAT für Angehörige des öffentlichen Dienstes festgelegt sind. Nach dieser Bestimmung hat sich der Angestellte so zu verhalten, wie es von Angehörigen des öffentlichen Dienstes erwartet wird. Zwar handelt es sich hier um eine recht allgemein gehaltene Generalklausel, es ist jedoch in der Rechtsprechung des BAG anerkannt (so BAG, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung; BAGE 7, 256 = NJW 1959, 1197 L = AP Nr. 1 zu Art. 5 I GG Meinungsfreiheit; BAGE 38, 85 = NJW 1982, 2888 = AP Nr. 8 zu Art. 5 I GG Meinungsfreiheit; BAGE 51, 104 = NJW 1986, 2209 L = AP Nr. 2 zu § 48 TVAL), daß der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhalten hat, daß das Ansehen des Arbeitgebers bzw. des Amtes nicht beeinträchtigt wird; die dienstliche Verwendbarkeit des Angestellten kann durch außerdienstliche Vorgänge beeinflußt werden; die generalklauselartige Weite der Tarifvorschrift rechtfertigt nach dieser Rechtsprechung für sich allein nicht die Annahme einer von den Tarifvertragsparteien gewollten Regelungslücke, die für die einzelnen Dienststellen durch entsprechende ergänzende Dienstvereinbarungen zu schließen wäre.

Deshalb wird auch in der einschlägigen Literatur überwiegend die Auffassung vertreten, die in § 8 I 1 BAT normierte Pflicht des Angestellten beziehe sich auch auf sein außerdienstliches Verhalten, weil die Öffentlichkeit das Verhalten eines öffentlichen Bediensteten mit einem strengeren Maßstab messe als das privat Bediensteter; in seinem außerdienstlichen Verhalten habe der Angestellte nicht nur die Gesetze und die sonstigen Rechtsvorschriften, sondern auch die ungeschriebenen Anstandsgesetze zu beachten, wobei der Angestellte allerdings das Recht habe, sein Privatleben so zu gestalten, wie es ihm beliebe, sofern er nicht gröblich seine Pflicht zu einem achtungswürdigen Verhalten verletze oder ein öffentliches Ärgernis errege (so Böhm-Spiertz-Sponer-Steinherr, BAT, Stand: Oktober 1997, § 8 Rdnr. 43; Clemens-Scheuring-Steingen-Wiese, BAT, Stand: August 1997, § 8 Erl. 2; Crisolli-Ramdohr-Sieber-Meid, BAT, Stand: September 1997, § 8 Erl. 1 bis 3 zu Abs. 1). Soweit die Auffassung vertreten wird, es ergäben sich tarifliche Wirksamkeitsbedenken insoweit, als der Vorschrift eine Regelung des außerdienstlichen Verhaltens des Angestellten beigemessen werde, was nicht zur Regelungszuständigkeit der Tarifvertragsparteien gehöre (Bruse u. a., BAT, § 8 Rdnr. 7), wird auch von diesen Autoren (Bruse u. a., § 8 Rdnr. 8) ausgeführt, unabhängig von § 8 I 1 BAT habe der Angestellte dienstlich und - in gewissen Grenzen - auch außerdienstlich das Ansehen des öffentlichen Dienstes zu wahren und insbesondere seine Amtsführung damit in Einklang zu bringen.

c) Aus alledem folgt, daß die der Kl. zur Last gelegten Betrügereien, Diebstähle und in einem Fall Anstiftung zu einer Falschaussage - zumal in ihrer Häufigkeit über längere Zeit - erhebliche (Neben-)Pflichtverletzungen darstellen, die an sich eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen können. Das LAG hat bei der Teilwürdigung dieses isolierten Kündigungssachverhaltes auch angenommen, der Kl. sei im Hinblick auf diese Handlungsweise ein Schuldvorwurf zu machen, da auch das LG nicht von einer absoluten Verschuldensunfähigkeit der Kl. ausgegangen sei; die Krankheit sei nicht geeignet, den Schuldvorwurf zu beseitigen, denn es sei davon auszugehen, daß die Kl. ihr Verhalten im Sinne einer Vorwerfbarkeit oder eines Verschuldens steuern konnte, was sich bereits daraus ergebe, daß die Kl. ein entsprechendes Verhalten an der Arbeitsstelle nicht an den Tag gelegt habe. Diese Ausführungen sind nicht mit einer erheblichen Gegenrüge der Kl. angegriffen worden.

Wenn das LAG alsdann im Rahmen der Ausführungen zur Interessenabwägung von einer nicht „so erheblichen Pflichtverletzung“ der Kl. ausgegangen ist, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen wird dabei außer acht gelassen, daß diese isolierte Betrachtungsweise angesichts des einheitlich zu beurteilenden Gesamtsachverhaltes unvollständig ist (s. oben zu II 2 a), andererseits wird bei der Interessenabwägung, wie die Revision weiter zutreffend rügt, weder gewürdigt, daß die Besonderheiten des öffentlichen Dienstes durch Repräsentanz des Staates gegenüber dem Bürger erhöhte Anforderungen an die Lebensführung des öffentlich Bediensteten stellen, noch etwa, daß das Arbeitsverhältnis in der 20jährigen Dauer nicht ungestört verlaufen ist, sondern praktisch in den letzten zehn Jahren fortlaufend von der Kl. strapaziert worden ist. Das gilt nicht zuletzt auch insoweit, als mit den durch die Straftaten ausgelösten Verurteilungen Unterbringungen in Kliniken und schließlich in der Haftanstalt verbunden waren, die es der Kl. teilweise unmöglich machten, ihren Arbeitspflichten nachzukommen. Demgegenüber stellt das BerGer. allein auf die erhebliche Fürsorgepflicht der Bekl. gegenüber der Kl. angesichts der über 20jährigen Dienstzugehörigkeit ab. Die Interessenabwägung erweist sich daher in mehrfacher Hinsicht als unvollständig.

d) Nicht zu folgen ist dem LAG schließlich darin, daß es bei der Abwägung der beiderseitigen Interessen unmittelbar auf die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Wertentscheidungen der Verfassung abstellt, und zwar auf das umfassende Freiheitsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 12 I GG, obwohl § 1 II KSchG insofern eine abschließende gesetzliche Regelung über die wechselseitig zu beachtenden Interessen enthält (st. Rspr. des BAG, vgl. u. a.: BAGE 11, 357 = NJW 1962, 556 = AP Nr. 3 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung m. Anm. A. Hueck; BAGE 20, 345 = NJW 1968, 1693 = AP Nr. 1 zu § 1 KSchG Krankheit m. Anm. A. Hueck; BAG, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; ausdrückl. auch: BAGE 65, 61 [73] = NJW 1991, 587 = NZA 1991, 181 = AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung [zu B II 7 a]; vgl. ferner die Nachw. der Rspr. bei Bitter-Kiel, RdA 1994, 333 [336 f.] sowie RdA 1995, 26 [32 f.]; Etzel, in: KR, § 1 KSchG Rdnrn. 221, 269 f., 395 f., 514 f.). Das LAG stützt sich insoweit zu Unrecht auf das Urteil des Senats vom 9. 3. 1995 (NZA 1995, 777 = AP Nr. 123 zu § 626 BGB), denn der Senat hat dort nur zur Begründung einer dem Arbeitgeber obliegenden Fürsorgepflicht als Ausfluß des in § 242 BGB niedergelegten Gedankens von Treu und Glauben, also zur Interpretation des § 242 BGB, auf die in den Grundrechten zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidungen der Verfassung zurückgegriffen. Die Übertragung dieser Grundsätze auf die nach § 1 II KSchG anzustellende Interessenabwägung ist fehl am Platze (ebenso Preis, Prinzipien des KündigungsR für Arbeitsverhältnisse, S. 117 f., 411 f.; ders., NZA 1995, 241 [243]; Hueck-v. Hoyningen-Huene, § 1 Rdnrn. 135, 136; Herschel, in: Festschr. f. Schnorr von Carolsfeld, 1972, S. 157 [163 f.]; Kittner-Trittin, KSchR, 2. Aufl., § 1 KSchG Rdnr. 51; Löwisch, § 1 Rdnrn. 56 f.; Schaub, S. 1157 f.; Sowka, in: KPK, Teil H, Rdnrn. 84 f.).

e) Neben dem einheitlich zu würdigenden Lebenssachverhalt (Verstoß gegen die Pflichten des Angestellten aus § 8 BAT und damit zusammenhängende Strafverurteilung sowie haftbedingte Unmöglichkeit zur Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung) stützt die Bekl. die Kündigung der Kl. ferner auf eine weitere Pflichtverletzung, nämlich die Nichtmitteilung der eingetretenen Änderungen in ihren persönlichen Verhältnissen. Soweit dieser verschiedenartige Kündigungssachverhalt aus personalvertretungsrechtlichen Gründen überhaupt verwertbar ist - die Kl. bestreitet insofern eine ausreichende Information des Personalrats (vgl. auch noch nachfolgend zu 3) -, hat das LAG - und dies ist insoweit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden - eine separate Würdigung dahin vorgenommen, daß zum Kündigungszeitpunkt die Bekl. über die erforderlichen Informationen verfügt habe, daß es insoweit jedenfalls aber vor Ausspruch der Kündigung einer Abmahnung der Kl. bedurft hätte. Das ist rechtlich zutreffend und wird insoweit auch von der Revision nicht angegriffen. Allerdings greift die abschließende Gesamtwürdigung deshalb zu kurz, weil sie auf der isolierten Betrachtung der übrigen Kündigungsbegründung (oben zu II 2 a und b) beruht und auch in sich keine eigentliche Begründung enthält, warum die von der Bekl. zusätzlich behauptete Nichterfüllung weiterer Nebenpflichten nicht gleichsam das Bild einer öffentlich Bediensteten abrundet, die ihre Pflichten gegenüber dem öffentlichen Dienstherrn insgesamt nachdrücklich vernachlässigt.

3. Aus den genannten Gründen war das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückzuverweisen.

a) Dabei ist vorab anzumerken, daß eine Unwirksamkeit der Kündigung wegen Umgehung der Unkündbarkeitsregelung in § 53 III BAT nach der Rechtsprechung des BAG (BAGE 57, 1 = AP Nr. 2 zu § 53 BAT; BAG, NJW 1988, 159 = AP Nr. 19 zu § 9 KSchG 1969; BAG, NZA 1988, 391 = AP Nr. 14 zu § 620 BGB Bedingung; BAG, Urt. v. 20. 7. 1989 - 2 AZR 515-88, unveröff.) nur in Betracht kommt, wenn der Zweck einer zwingenden Rechtsnorm dadurch vereitelt wird, daß andere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten mißbräuchlich verwendet werden, wobei es nicht auf eine Umgehungsabsicht oder eine bewußte Mißachtung der zwingenden Rechtsnorm, sondern auf die objektive Funktionswidrigkeit des Rechtsgeschäfts ankommt. Dabei ist eine Funktionswidrigkeit einer Kündigung nicht allein darin gesehen worden, daß sie wenige Monate vor Eintritt der Unkündbarkeit erfolgt ist (Senat, Urt. v. 20. 7. 1989 - 2 AZR 515-88, unveröff.).

b) Dem LAG ist die abschließende Entscheidung darüber vorbehalten, ob und inwieweit die Bekl. gehindert ist, aus personalvertretungsrechtlichen Gründen sich auf die von ihr angeführten Kündigungsgründe zu berufen. Denn die Kl. hat bestritten, daß der Personalrat umfänglich zu den im Kündigungsschreiben vom 28. 3. 1995 angeführten Kündigungsgründen gehört worden ist.

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

KSchG § 1 II; BAT §§ 6, 8